Wie ich im letzten Beitrag angekündigt habe, möchte ich heute einige Auszüge zu lesen geben, die ich am Wochenende um den 29. September 2022 in Cividale in Friaul geschrieben habe. Darin habe ich mich der Frage nach meinem eigenen Tod gestellt. Wie das gekommen ist, kannst du in meinem letzte Beitrag nachlesen.
Es handelt sich dabei nicht um die allerpersönlichsten Passagen. Dennoch hoffe ich, dass sie dich zum Nach- und Weiterdenken anregen.
Meine konkrete Frage war, welche Gedanken mir kommen und was ich tun würde, wenn ich erfahre, dass ich nicht mehr lange zu leben hätte.
Ein Kapuziner sagte mir, wenn er erfahren würde, dass er morgen sterben müsse, würde er genauso weiterleben wie bisher. Nun ja. Das hat seine Plausibilität. Denn es ist doch egal, ob man morgen oder in 30 Jahren stirbt. M a n s o l l t e doch immer so leben, dass man sich des eigenen Todes bewusst ist und dass man sich jederzeit vom Leben verabschieden kann.
Dennoch enthält diese Ansicht zwei Probleme: (a) Gewöhnlich lebt man nicht im Bewusstsein des eigenen Todes. (b) Es macht einen Unterschied, ob ich nur die Tatsache weiß, dass ich einmal sterbe, oder ob ich von einem Arzt ein bestimmtes, wenn auch nur ungefähres Ablaufdatum gesagt bekomme. (Dabei fällt mir ein: Auch Lebensmittel sind oft nach dem Ablaufdatum noch genießbar.)
Zu a) Aufgrund dieser Tatsache macht es also faktisch einen Unterschied, ob ich weiß, dass ich morgen sterbe oder irgendwann. Daher kann hier nur ein moralischer Imperativ „Man sollte …“ ausgesprochen werden. Was aber nicht bedeutet, dass man es tatsächlich tut. Viel eher schiebt man solche Themen immer und immer wieder auf. Also bedeutet die Nachricht meines nahenden Todes eine faktische Lebensänderung. Würde man hingegen ein Leben schon im Angesicht des eigenen Todes führen, wäre eine Lebensänderung nicht notwendig.
Aber der Imperativ bringt mich zum Nachdenken: Soll man wirklich sein Leben im Hinblick auf den eigenen Tod führen? Ich denke ja. Ich halte jedes andere Leben für verschwendet. Aber vielleicht habe ich nicht recht.
Ich weiß schon: Viele Menschen ziehen den Schluss, das Leben zu genießen, weil: „Man lebt ja nur einmal!“ Nichts gegen den Genuss. Aber das Leben nur im Genießer-Modus zu verbringen? Das wäre mir zu wenig. Vor allem, wenn ich dann an jene Menschen denke, die täglich ums Überleben kämpfen müssen. Und mir dann die Zusammenhänge durch den Kopf gehen, in denen ich mit meinem Genuss lebe.
Ich habe noch keine Idee, was ich sofort beenden würde, und was später. Ich meine das in beruflicher Hinsicht. Würde ich bis zum letzten Tag arbeiten? Sicherlich würde ich nicht alles mehr tun, was ich jetzt mache, denn da geht mir einiges auf die Nerven. Aber wann würde ich komplett mit der Arbeit aufhören?
Was würde ich in ein E-Mail hinschreiben? „Ich beende mit sofortiger Wirkung meine Tätigkeit als Supervisor bei Ihnen, weil ich demnächst sterben werde. Es hat also nichts mit Ihnen zu tun, sondern liegt ausschließlich an mir.“ Oder: „Der Todgeweihte grüßt Sie. Aus diesem Grund muss ich das kommende Seminar absagen.“
Oder soll man in einem solchen Fall besser anrufen?
Wie gestalten sich also die letzten Tage des Lebens? In Wirklichkeit kann nämlich niemand – auch nicht die erfahrensten Ärzt*innen – sagen, wie lange man noch zu leben hat. Dabei stellt sich noch eine Grundfrage:
Wem würde ich von meinem baldigen Tod in Kenntnis setzen? Sicher meine Frau und meine Kinder. Wahrscheinlich auch meine Mutter.
Es ist schwierig. Eigentlich können es ruhig alle erfahren, ich will kein Geheimnis daraus machen. Aber ich will auch kein Mitleid und in den Begegnungen mit den Menschen soll es keine ständige Schwere geben. Also muss ich einen Weg finden, um die Nachricht weiterzugeben und dann gleich auch eine Anleitung zum richtigen Umgang mit mir.
Und das auch noch:
Einzelne Sätze
Als Pessimist lebt es sich vielleicht schwerer, aber es stirbt sich leichter.
Ich werde mir nicht das Leben nehmen.
Ich möchte dann Schritt für Schritt von dieser Welt loslassen.
„Ich sterbe bald. Aber mach die keinen Kopf. Das geht auch vorbei.“
Ich bräuchte dann nicht mehr zum Zahnarzt. Was für eine Erleichterung! Ich könnte mir überhaupt einige Arztbesuche sparen.
Am Ende muss ich meiner Frau recht geben: Ich sterbe vor ihr.
Ich bin froh, dass ich kein Optimist bin.
Und was kommt nach dem Tod?
Über das, was nach dem Tod kommt, mache ich mir keine Gedanken. Zuerst sehe ich meine Aufgabe im Loslassen dieser Welt. Was dann kommt, kommt. Ja, vielleicht sollte ich mich jetzt schon darauf einüben, alles so anzunehmen, wie es kommen wird.
Was ich mir irgendwie erwarte, sind zunächst schmerzhafte Erfahrungen. Vielleicht werde ich nochmals mit meiner Schuld konfrontiert. Das wird sicher nicht angenehm. Vielleicht treffe ich Menschen, denen gegenüber ich schuldig geworden bin. Dafür schäme ich mich. Egal, was nach dem Tod kommen wird, an ein einfaches Friede, Freude, Eierkuchen glaube ich nicht.
In einem Buch habe ich gelesen, dass sich der Autor wünscht, nach dem Tod von einer zärtlichen Stimme gerufen zu werden. Dieser Gedanke ist mir völlig fremd. Die erste Vorstellung, die mir kommt, ist, dass ich allein im Dunkeln bin. Das ist aber nicht beängstigend. Ich habe eher das Gefühl, dass ich in dieser einsamen Dunkelheit der sein kann, der ich bin.