Der nachfolgende Text stammt aus einem Entwurf für mein nächstes Buch.
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Gottes Schweigen in Europa
„So wie Europa sich gibt, immer mehr abgeschottet, in Egozentrismus und Egoimus gefangen, muß es nicht erstaunen, wenn es von Gott nur sein ‚Stillschweigen‘ vernimmt. Und heute ist es nicht einmal mehr ein ‚beredtes Schweigen‘, für viele auch keine ‚gegenwärtige‘ Abwesenheit. Das beeindruckt mich am meisten, und für den Augenblick möchte ich vorschlagen […] dieses Stillschweigen zu akzeptieren, solange kein Wille vorhanden ist, den Egoismus zu überwinden, wohlverstanden, von der sturkturellen Ebene gesprochen, nicht von der Person.“1
Das sagt der aus El Savador stammende Befreiungstheologe Jon Sobrino 1992 anlässlich eines Theologen-Gespräches in Graz im Rahmen der Verleihung des Menschenrechtspreises der Universität. Bisher habe ich über den Unglauben, die Abwesenheit Gottes und das Vermissen seiner im Allgemeinen gesprochen. Es sollte deutlich werden, wie zentral der Unglaube im Glauben ist; ja, wie sehr der Unglaube gut begründet ist und den Glauben von der Wurzel her in Frage stellt. Und ich meine, dass wir uns auf diesen Unglauben einlassen müssen, ohne darüber hinwegzuvertrösten, ohne ihn zu verdrängen, sondern mitten in ihn hineinzugehen. Darin erst erkennen wir unsere radikale Rettungsbedürftigkeit aus einem Leben und einer Welt, die uns keine Fülle und keine Erfüllung bieten kann. Und darin erst wird uns deutlich, wie groß das Geschenk der tatsächlichen Rettung ist, sollte sie einmal wirklich stattfinden.
In diesem Abschnitt kommt eine neue Perspektive hinzu: Diese rechnet damit, dass sich Gott den Völkern dieser Erde auf unterschiedliche Weise zeigt, dass er den Gesellschaften unterschiedlich nahe ist. D. h. diese neue Perspektive beinhaltet auch ein Element, dass bisher noch zu kurz gekommen ist, nämlich der Gesellschaftscharakter des menschlichen Seins. Was meine ich damit?
In unserer postmodern geprägten Kultur sehen wir uns als absolute Individuen. Und in dieser Sichtweise entwerfen wir auch unser Glauben. Wir fassen uns auf als Einzelne, die vor Gott stehen. Auch habe ich in diesem Kapitel häufig in der Einzahl formuliert, sodass damit angedeutet werden könnte, dass es immer um die Beziehung zwischen einem Individuum und Gott geht.
Dies missachtet jedoch die wesenhafte Bezogenheit des Menschen auf andere Menschen. Der Mensch ist immer eingebunden in einen sozialen Zusammenhang. Er ist kein absolut für sich stehendes Individuum. Die Bibel drückt dies mit dem Wort „Volk“ aus. Das Volk bzw. die Völker stehen Gott gegenüber, nie einfach nur der Einzelne. Dort, wo in der Bibel der Einzelne hervortritt, tritt er immer in Bezug auf das Volk auf: als Führer oder König des Volkes oder als Prophet, der dem Volk etwas zu verkünden hat. Auch viele Psalmen sind nicht als Gebet eines Einzelnen für sich zu verstehen, sondern für ein Volk und aus einer Situation des Volkes heraus.
Da jedoch das Verständnis des Begriffes „Volk“ sehr schillernd, schwer zu klären und historisch auch belastet ist, möchte ich an dieser Stelle einfach den Begriff der „Gesellschaft“ verwenden. Dieser ist ebenso schillernd, aber m. E. weniger missverständlich als der Volks-Begriff.
Wenn also Sobrino in seiner These von einer strukturellen Ebene spricht, dann spricht er eben von dieser gesellschaftlichen Ebene. Auf gesellschaftlicher Ebene „hört“ man ein Stillschweigen Gottes. Das schließt nicht aus, dass einzelne Personen in ihrem Leben anderes erfahren. Aber als Gesellschaft erfahren wir die Abwesenheit Gottes. Und das meint nicht, dass nicht mehr von Gott gesprochen wird oder dass wir unsere Leben als Gesellschaft nicht mehr auf Gott hin entwerfen. Vielmehr meint es tatsächlich, dass Gott sich von Europa zurückgezogen hat.
Dies sehen die Christen in Europa zumeist anders. Deshalb ist es vielleicht auch wichtig, dass ein Lateinamerikaner kommt, um Europa eine neue Perspektive aufzuzeigen. Als Ursache macht Sobrino den Egozentrismus und Egoismus Europas aus. Mit anderen Worten: Er verortet die Ursache für die Abwesenheit Gottes in der Sünde des Menschen, also in der von Moltmann erwähneten dritten Reaktionsweise. „Vielleicht“, so Sobrino weiter, „liegt darin das Hauptproblem für Europa und den ganzen Norden: man ist nicht bereit, von der dritten Welt etwas entgegenzunehmen, was menschlicher machen könnte.“2
Sobrino fordert aber keine kultische Reinigung von der Sünde, damit Gott sich uns wieder zeigt. Mit der gesamten Befreiungstheologie fordert er gut biblisch einen anderen Lebenswandeln, der endlich davon abrückt, Menschen anderer Kontinente auszubeuten, zu unterdrücken und in die Armut zu drängen. Schamlos beuten wir die Ressourcen anderer Kontinente zur eigenen Wohlstandssicherung aus, ohne ihnen im gleichen Maß Wohlstand zukommen zu lassen. Gerade in der Phase großer Infaltion und Teuerung denken wir vor allem an unsere eigene Wohlstandssicherung und beklagen uns über eine Inflation, die die zehn Prozent nicht übersteigt, sehen aber nicht, dass Länder des globalen Südens eine zehn- bis zwanzigfach höhere Inflation hatten.
Um den Gegensatz zwischen globalem Norden und Süden, wie ihn Sobirno sieht, noch besser zu verstehen, müssen wir sehen, dass er davon ausgeht, „daß Gott heute eine Botschaft für die Geschichte und die Kirche hat oder haben kann, und daß er dies in einer ganz neuen Weise sagen kann, die klar ist und nicht mehr zu verbergen“3. Gott hat auch heute noch etwas zu sagen und er hat es auf neue Weise zu sagen. Er hat eine Botschaft für die Menschen in Lateinarmerika, für die lateinamerikanische Kirche. „Sie [die Kirche] hat Gott wiederentdeckt als den, der die Schreie und Klagen seiner Kinder hört, und als den, der herabsteigen will, sie zu befreien. Sie hat ihn auch als Verborgen in den Armen gesehen und als Gekreuzigten in den Millionen Opfern dieser Welt. Sie hat ihn in der Hoffnung der Unterdrückten auf Leben und Würde entdeckt und als denjenigen, der diese begünstigt und ermutigt. Dies ist das Heute Gottes in unserer Welt, und aus diesem Heute erwächst die neue Form, in Lateinamerika Kirche zu sein.“4
Gott ist nach Sobrino ganz gegenwärtig in den Ärmsten und Opfern dieser Welt. Liegt es da nicht auf der Hand, dass er nicht bei den Ausbeutern, bei den Tätern und Armutsfabrikanten ist? Wen wundert es also, dass Gott sich von Europa schweigend fern hält? Können wir tatsächlich davon ausgehen, dass sich Gott jenen heilsam nähert, die als die Geringsten, die Kleinsten, die Letzten, angesehen werden, sich aber von jenen fern hält, die als die Wichtigsten, die Größten, die Ersten gelten?
Gerade den globalen Norden müsste dann die Umkehrbotschaft besonders treffen. Aber da ist kein Gott mehr, der zur Umkehr ruft. Gott schweigt. Und er lässt uns ins Verderben gehen. Mit samt seinen Kirchen.
Wir vermissen Gott nicht einmal mehr. Wir erwarten nichts mehr von einer fiktiven Gestalt. Die Schreie der Europäer gehen ins Leere, wenn sie überhaupt noch in den Himmel gerichtet werden, und kommen als Echo und Gegenschreie zurück, wenn sie an die Mitmenschen gerichtet sind. Und so schreien wir uns gemeinsam gegeneinander in den gottlosen Abgrund. Im Lärm der Welt versuchen wir diese Schreie zu übertönen und unhörbar zu machen. Der Untergang kommt also mit Pauken und Trompeten.
Wenn da aber kein Gott mehr ist, der zur Umkehr ruft, der einen nicht nur einen neuen Lebenswandel fordert, sondern der beispielgebend für diesen neuen Lebenswandel sein sollte – wenn da kein liebendes und barmherziges Wesen ist, von dem wir Liebe und Barmherzigkeit lernen könnten – wenn da kein heiliges Wesen ist, an dem wir selbst heilig werden könnten – dann fällt all das, was ich bisher in diesem Buch gesagt habe, in sich zusammen. Der theo-ethische Grundsatz hat seine Geltung verloren.
Woran soll sich dann noch ein Christ, zumal er in Europa lebt, noch ausrichten? Laufen wir dann nicht Gefahr, auf eine völlig lieblose Gesellschaft zuzugehen? Ein Szenario, dass sich sicher viele gut vorstellen können. Wie das aussehen könnte, das schildere ich im nächsten Kapitel.
1Sobrino, Abschließender Kommentar, in: König/ Larcher, Theologie der gekreuzigten Völker, 113.
2Sobrino, Abschließender Kommentar, in: König/ Larcher, Theologie der gekreuzigten Völker, 113f.
3Sobrino, Die Kirche der Armen als Kirche Jesu, in: König/ Larcher, Theologie der gekreuzigten Völker, 60.
4Sobrino, Die Kirche der Armen als Kirche Jesu, in: König/ Larcher, Theologie der gekreuzigten Völker, 61.