Karlheinz Six

Die Frau

Bild: Die Frau

Der nachfolgende Text hat seine Ursprünge in einem Freewriting, aus dem dann eine Reihe von vier Texten mit unterschiedlichen Perspektiven und Metaphernkreisen wurde. Hier handelt es sich um den vierten Text.

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Die Frau

Hoch ragt der kräftige Turm der Kirche in den hellen Himmel. Und in ihr Finsternis.

Und wenn eine vor ihm, dem Turm, stünde, müsste sie den Kopf weit, weit in den Nacken legen. Dann sähe sie seine Spitze in den Himmel stechen.

In den Himmel, der luftdurchströmt und leicht über den Erdkreis schwebt. Er verblasst nicht, er kümmert sich nicht, er verlässt nicht. Gleichmäßig gleichgültig unbekümmert schwebt er über den Erdall.

So sticht der Kirchturm mit seiner Spitze, dem Kreuz, den Himmel. Dem Kreuz, das der Geliebte schwer belastet auftrug. Hinauftrug den schmerzschreidende Tod der Verlassenheit. Der gewichtige Tod, der dem Erdall aufgetragen ist.

Dem Erdall, beladen mit Menschen, die totschwere Verlassenschaften aufladen, aufladen zu müssen glauben. So dreht der Wächter Tod nicht nur am Kirchturm seine Runden. Er umkreist auch – Erdgrab an Erdgrab – die sakrale Befestigung mit seinen Toten. Den Menschen, die gleichmäßig nebeneinander liegen, nicht miteinander, gleichgültig unbekümmert gegeneinander.

Und wenn eine vor dem Kirchturm stünde und gerade zu den Gräbern sähe, dann merkte sie, wie sich deren Tatkraft passioniert zusammenzieht bis in die Mitte und wie sie in geballter Ladung durch den Turm hinauf in den Himmel sticht. Der Toten Tatkraft den hellen Himmel ersticht.

Der Himmel ist tot.

Vom Kreuzestod erstochen.

Und der helle Himmel verfinstert sich und die Uhr des Turms schlägt drei.

Doch: Von Weitem schaut sie zu. Mit Schmerzen in der Seele, mit Schwertstich-Schmerzen.

Und ihren Kopf leicht hebend sieht sie den Himmel als Leichnam gleichmäßig gleichgültig unbekümmert über das Erdgraball beschwerlich schweben.

Und sie hört die Stimme des Geliebten von Ferne rufen: „Himmel, Himmel, warum hast du uns verlassen? Bist gleichgültig gegen uns? Tot bist du. Wie die Erde. Kein Mensch vermisst dich noch. O Erd und Himmel: Zum Weltall wurdet ihr erklärt.“

Und sie hält nichts mehr zurück. Keine Stimme, die ihr etwas aufträgt zu sagen. Auch sie beschwört nicht mehr. Sie kehrt sich um und geht.

Und die Menschen werken Geschosse, die sie in das Weltall feuern. In das Weltall, das nicht brennen kann. Ist doch das All, all das, gleichmäßig unendlich leer.

Und ins Weltall abgeschossen verblassen die Menschenfeuerwerke, tauchen ein in das unendliche Schwarz der Finsternis. Das Schwarz, das auch in den Erdallgräbern zu finden ist.

Am Ende – weit, weit weg im weiten Weltall – ist dasselbe zu finden, wie eben-ebenhier auf der engen Erde drinnen.

Und in der Kirche: Da brennt ein kleines Licht. Ein kleines Licht, das leicht und unbekümmert leuchtet und ein paar zarte Funken feuert. Ein paar zarte Funken, die in der Finsternis verblassen.

Und luftdurchströmt das All, verblasst das Licht.

Doch sie hat’s nicht gesehn.


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