Karlheinz Six

Die ambivalente Maria

Titelbild: Die ambivalente Maria

Heute am 8. Dezember muss eine Folge über Maria, die Mutter Jesu, handeln. Zu hören sind aber keine salbungsvollen, marienfrömmelden Worte. Vielmehr soll eine ganz andere Spur verfolgt werden: Maria, der Mensch und die Frau. Diese hat uns in ihrem Schweigen wohl mehr zu sagen als die Maria gegenwärtiger Marienspiritualität.

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Transkript

Herzlich Willkommen zur 35. Folge meines Podcasts „aus&aufbrechen“. Passend zum heutigen Tag muss ich ein paar Worte zu Maria sagen. Ich meine, die Mutter Jesu. Warum an diesem Tag? In der ganzen Vorweihnachtskonsumeuphorie geht ja ganz unter, dass der 8. Dezember ein Feiertag ist, sogar ein staatlicher. Obwohl ja mittlerweile alle Geschäfte geöffnet haben dürfen.

„Mariä Empfängnis“ heißt dieser Tag. Und hier wird nicht daran gedacht, dass Maria mit Jesus schwanger wurde, sondern dass Marias Mutter eben mit Maria schwanger wurde. Neun Monate später, also am 8. September, feiert die Kirche daher Mariä Geburt. Desgleichen feiert man am 25. März, also neun Monate vor Weihnachten, das Fest Mariä Verkündigung. Gemeint ist, dass Maria gesagt bekommt, dass sie schwanger ist. Daher hieß das Fest früher auch einmal „Empfängnis Christi“.

So, genug davon. Was euch jetzt erwartet, sind keine salbungsvollen Worte über Maria, bei denen ich mit verzücktem Gesicht schräg aus den Augenwinkeln gen Himmel schaue, und mir vorstelle, wie sie mich mit ihrem liebevollen Blick beobachtet. Und mir vielleicht sogar noch eine Botschaft von Frieden halten und vom steten Beten zukommen lässt.

Nein, mit dieser bei uns so weit verbreiteten Marienfrömmigkeit kann ich nichts anfangen. Wenn du so etwas hören willst, dann schalte jetzt bitte ab. Ich möchte einen ganz anderen Blick auf Maria werfen. Einen menschlicheren. Einen für mich überzeugenderen. Einen glaubwürdigeren. Wenn du so etwas hören willst, dann solltest du dran bleiben.

Ich beginne damit, dass ich ein wenig in die Bibel schaue. Es zeigt sich dort ein sehr unterschiedliches Bild von Maria. Während die Marienfrömmigkeit sehr geprägt ist von der kirchlichen Lehrentwicklung und mit diesem Blick in die Bibel schaut, blendet sie zugleich anderes aus. Was meine ich mit kirchlicher Lehrentwicklung? Also im Laufe der Geschichte kam es zu verschiedenen kirchlichen Aussagen über Maria: Sie ist Mutter Gottes, sie ist Jungfrau, sie ist ohne Erbsünde empfangen und sie ist mit Leib und Seele in den Himmel aufgenommen worden. Wenn wir mit diesen Aussagen im Hinterkopf in die Bibel schauen, dann werden wir auch nur diese Maria finden. Die andere Maria kommt nicht vor.

Zum Beispiel sieht man dann nicht, dass Maria weder für den Evangelisten Markus, noch für den Apostel Paulus eine besondere Rolle spielt. Von der Jungfrauen-Geburt fehlt bei diesen beiden, aber auch beim Evangelisten Johannes jede Spur.

Bei Markus taucht sie nur am Rande auf. Vor allem da, wo Jesus von seinen Verwandten, darunter seine Mutter, für verrückt gehalten wird. Sie wollen ihn nach Hause holen. (Mk 3) Hier ist nicht von einer Mutter die Rede, die von Anfang an geglaubt hat, dass Jesus der Messias ist. Hier wird von einer ganz normalen Mutter erzählt. Denn welche Mutter würde sich nicht Gedanken machen, wenn der Sohn plötzlich herumläuft, Gottes Reich predigt und Jünger*innen um sich scharrt. Jesus war ja kein Gelehrter und kein Rabbi. Er war ein einfacher Handwerker und kam aus ärmlichen Verhältnissen. Also ich würde mir da schon Sorgen um den Geisteszustand meines Sohnes machen. Ich würde zweifeln.

Johannes zeichnet ein sehr interessantes Marien-Bild. Ihr Name wird keine einziges Mal erwähnt. Sie ist immer nur die oder seine Mutter. Zumindest Markus erwähnt ihren Namen einmal.

Wie auch immer. Zuerst taucht sie bei der Hochzeit in Kana auf. Ihr wisst schon: Wasser wurde in Wein verwandelt. Nach Johannes Jesu erstes Wunder. Da hat Maria wirklich eine besondere Rolle: Der Wein geht aus. Das sagt Maria zu ihrem Sohn. Sie verbindet damit scheinbar die Hoffnung, dass Jesus dieses Fest feucht-fröhlich weiterlaufen lassen könnte, wenn er nur wollte. Er aber wendet sich schroff gegen sie. „Was willst du von mir, Frau? Meine Stunde ist noch nicht gekommen.“ (Joh 2,4) Sagt er und meint damit, dass noch nicht offenbar werden soll, wer er ist.

(Kurze Zwischenbemerkung: In der nächsten Episode spreche ich über den unsympathischen Jesus, denn so liebevoll geht er hier nicht mit seiner Mutter um.)

Sie lässt sich jedenfalls von seiner schroffen Art nicht ablenken, sondern wendet sich an die Diener: „Was er euch sagt, das tut!“ (Joh 2,5)

Maria hat hier eine ganz andere Position als im Markusevangelium. Sie weiß hier genau, wer Jesus ist und sie verweist andere auf ihn. Ihm soll man gehorchen. Und so heißt es am Ende der Erzählung, dass sich Jesus mit seinen Jüngern und Maria zurückgezogen hat. Seine Mutter ist nicht diejenige, die ihn heimholen will, sondern die ihm nachfolgt.

Aber sie taucht während des ganzen Evangeliums nicht mehr auf, sondern erst wieder bei der Kreuzigung. Nur bei Johannes stirbt Jesus in Anwesenheit von drei Frauen und dem Jünger, den er liebt. (Bei diesem Jünger verweise ich auf eine meiner Episode über die Auferstehungserzählung.)

Bei allen anderen Evangelisten stirbt Jesus allein bzw. in Anwesenheit zwei anderer, die gekreuzigt werden. Nur bei Johannes steht jemand unter dem Kreuz.

Und Jesus deklariert: Seine Mutter übernimmt nun eine neue Mutterschaft, nämlich die des Jüngers, den Jesus liebt. Ganz menschlich könnte man sagen, dass Jesus seine Mutter sozial absichert, denn sie hat nun keinen Sohn mehr und ihr Ehemann ist scheinbar schon tot; vom Vater Josef wird im Evangelium kein Wörtchen gesagt. Was diese neue Mutterschaft religiös aussagen soll, darüber wird kein Wort verloren.

Zu den Evangelien nach Matthäus und Lukas möchte ich noch etwas sagen: Die beiden bringen ja auch so genannte Kindheitserzählungen von Jesus. Und die kennen wir ja: Verkündigung durch den Engel Gabriel, Besuch bei Elisabeth, Weg nach Betlehem, Geburt in der Krippe, Besuch von Sterndeuter und Hirten usw. Dabei gilt zu beachten: Matthäus erzählt ganz anders als Lukas. Vergleicht einfach einmal selber. Nur einen Unterschied möchte ich hervorheben: Bei Matthäus wird dem Josef verkündet, das Maria schwanger ist; bei Lukas wird es der Maria selbst gesagt.

Ein Element dieser lukanischen Erzählung möchte ich herausgreifen: Auf die Aussage des Engels hin, dass sie ein Kind bekommen wird, sagt sie die bekannten Worte: „Wie soll das geschehen, da ich keinen Mann erkenne?“ (Lk 1,34)

Sie zweifelt also. Sie wird hier nicht als die von Beginn an Gläubige gezeichnet, sondern als die Zweifelnde. Erst als der Engel bekräftigt, wie das gehen kann, nimmt sie es gläubig an.

Hier sind aus meiner Sicht zwei Dinge hervorzustreichen:

1. Wenn Maria in der heutigen Frömmigkeit als tiefgläubig, als schlichte Ja-Sagerin gezeichnet wird, entspricht das nicht dem biblischen Bild. Das sehen wir an dieser Stelle und auch bei Markus.

2. Diese ganze Geschichte der Ankündigung durch den Engel inklusive Zweifel ist eine Geschichte, die Maria mehr auszeichnet, als wir Leser*innen es bemerken. Denn der ganze Aufbau der Erzählung ist derselbe, wie der bei der Berufung eines Propheten, die bekanntlich meistens nur Männer waren: Nachdem Gott einem Propheten gesagt hat, was er tun soll, äußert jeder Prophet seine Zweifel. Gott bekräftigt seine Berufung und bestärkt seinen Propheten. Wenn Lukas diese Geschichte bei Maria genauso aufbaut, dann will er sagen: Maria ist eine Prophetin. Sie hat eine entsprechende Stellung. Ihr Auftrag ist vielleicht nicht große Worte zu schwingen wie die alttestamentlichen Propheten, sondern den Sohn Gottes zu gebären. Allein, dass der Engel eben nicht zu Josef, dem Mann des Hauses geht, sondern direkt zu Maria, zeichnet Maria aus und hebt sie auf die gleiche Stufe wie die großen Männer des Volkes. Lukas ist – das zeigt auch das restliche Evangelium – der Feminist unter den Evangelisten. Immer wieder streicht er die Bedeutung der Frauen in der jungen Christenheit hervor.

Von dem her ist es schon sehr fragwürdig, wenn in der heutigen Marienfrömmigkeit Maria als die unterwürfige Ja-Sagerin gesehen wird.

Nach diesen kurzen Blicken in die Bibel erkennen wir kein eindeutiges Bild von Maria: Maria ist die Prophetin, sie wird besonders hervorgehoben, sie verweist auf Jesus, ihm soll gehorcht werden. Andererseits ist sie die Zweifelnde, weiß nicht, ob alles mit rechten Dingen zugehen soll, sie ist sich nicht sicher, ob ihr Sohn verrückt ist.

Mit welcher Maria kannst du dich denn eher identifizieren? Welche Maria ist dir näher? Welche dir sympathischer?

Gerade diese zweite Seite wird heute ausgeblendet. Maria wurde von Gott vergöttlicht – so hat es eine marienfrömmige Frau mir einmal gesagt. Meine Frau meint hingegen immer, dass unser Gottesbild so männlich geprägt ist, dass die Menschen Maria zur Quasi-Göttin gemacht haben, um einen Ausgleich zu schaffen. Im Zweifel gebe ich dann lieber meiner Frau recht.

Aber Spaß bei Seite: Dies könnte tatsächlich ein Problem sein. Zeichnet die Bibel Gott noch häufig mit weiblichen Zügen, gehen diese in der Übersetzung und dann im Laufe der Geschichte verloren. Ein Ausgleich muss her. Und das ist dann wohl Maria.

Es gibt aber in der Tradition der Kirche noch weitere Marienbilder, die nur wenig mit der Bibel, damit umso mehr mit dem realen Muttersein zu tun haben.

Da gibt es zum Beispiel die Maria Lactans, die stillende Maria. Da finden sich Marienstatuen in manchen Kirchen, wo sie ihren nackten Busen herausstreckt und Jesus stillt. Was für ein Skandal angesichts dessen, dass heute stillende Mütter in der Öffentlichkeit allzu oft gedisst werden. Ich weiß, ich bin schon wieder sarkastisch. Aber die stillende Mutter ist wohl das normalste auf der Welt. Und nur weil eine Frau in welcher Umgebung auch immer, einen Busen hervorholt, um ihr Kind zu stillen, muss man das nicht schon als unangebrachte Obszönität deuten. Jedenfalls passt eine solche Maria ganz gut in die Kirche.

Eine andere Tradition stellt Maria als Lehrende dar, die die Weisen der Welt belehrt. Dies ist ein etwas zwiespältiges Bild. Wer Maria vergöttlicht, der wird in ihr die weise Lehrerin sehen. Wer aber Maria menschlich sieht – wie es ja auch die Kirche tut – der wird darin feministisches Sprengpotentzial entdecken. Maria, die – wie bei Lukas – von Gott direkt angesprochen wird und nicht über den Umweg ihres Mannes und die auf Jesus verweist, auch wenn ihm selbst das gar nicht recht ist. Eine Maria, die sich einfach zu Wort meldet. Nicht umsonst hat sich die eine kirchliche Reforminitiative „Maria 2.0“ genannt, während die traditionellere dann eher bei „Maria 1.0“ gelandet ist. Die biblische Uneindeutigkeit setzt sich also in den kirchlichen Gruppierungen fort.

Dann gibt es auch die Maria Dolorosa, die Maria voller Schmerzen. Theatralisch oft dargestellt mit sieben Schwertern, die in ihr Herz stechen. In der Frömmigkeit werden diese sieben Schmerzen ganz konkreten Lebensereignissen Jesu zugeordnet.

Hier eine ungewöhnliche Pietà-Darstellung kombiniert mit den sieben Schwertern im Herzen Mariens.
Statue in der Chiesa di Santa Maria dei servi in Padua.

Titelbild: Pieta in der Kirche Santa Maria dei servi in Padua

In dieser Tradition passt dann auch die sogenannte Pietà-Darstellung, also Maria mit ihren toten Sohn im Schoß. Auch dieses Bild kommt in der Bibel nicht vor, sondern ist die 13. Station in der Kreuzwegandacht. In der christlichen Kunst ist es ein beliebtes Motiv.

Ich möchte zum Abschluss dazu passend erzählen, was mir eine Mutter berichtet hat und wo ich zum ersten Mal erlebt habe, dass Maria abseits der übertrieben frömmelden Marienspiritualität eine positive Identifikationsfigur sein kann.

Der Sohn dieser Frau war Anfang 20. Da nahm er sich das Leben. Die Mutter hat ihn in seiner Wohnung gefunden, ist am Boden gesessen und hat ihren Sohn das letzte Mal im Arm gehalten. Von Geburt an war sie voller Hoffnung für ihren Sohn, jetzt hält sie ihn tot in den Armen. Die Hoffnung ist dem Schmerz gewichen. Sie saß da, wie Maria voller Schmerzen, die ihren toten Sohn vom Kreuz in den Schoß gelegt bekommen hat. Die Identifikation mit Maria gab dieser Frau Kraft, ihren Schmerz auf sich zu nehmen und zu durchleben.

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