Karlheinz Six

Wettlauf der Jünger: eine Auferstehungserzählung – Teil 1

Titelbild: Wettlauf der Jünger - Eine Auferstehungserzählung - Teil 1

Den Wettlauf zweier Männer gewinnt eine Frau. Diese Folge geht auf das Licht in der Finsternis und eine kirchenpolitische Rivalität der frühen Kirche ein. Ziel ist die Deutung der ersten Auferstehungserzählung im Evangelium nach Johannes.

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Transkript

Herzlichen Willkommen zur 29. Episode meines Podcasts „aus&aufbrechen“. Heute möchte ich über eine Erzählung aus der Bibel sprechen. Sie handelt von einem Wettlauf von zwei Männern, den eine Frau gewinnt, und von eben dieser Frau, die mit einem vermeintlichen Gärtner spricht. Und sie erzählt gleich von mehreren eigenartigen Besonderheiten, die wir sehr gern überlesen.

In der Vorbereitung habe ich allerdings gemerkt, dass eine Podcast-Folge allein nicht ausreicht, um auf die ganze Geschichte näher einzugehen. So viel Ungewöhnliches enthält die Geschichte. Daher werde ich zwei Episoden damit verbringen. Heute schauen wir uns den Wettlauf an.

Bevor ich aber genauer darauf eingehe, möchte ich wie immer auf die Kontaktmöglichkeiten und meine Social-Media-Kanäle aufmerksam machen. Du findest sie in den Shownotes. Nachrichten und Kommentare sind immer willkommen. In den Shownotes findest du auch den Link zu meiner Webseite, auf der du dich zu meinem Newsletter eintragen kannst. Und du findest auch die Möglichkeit, mich auf einen Tee einzuladen.

So, jetzt geht’s aber los. Jetzt muss ich wohl das Geheimnis lüften, um welche Geschichte es geht. Es handelt sich nämlich um die erste Erscheinung des auferstandenen Jesus, wie sie der Evangelist Johannes erzählt. Und wie ich schon gesagt habe, enthält diese Geschichte einige Eigenartigkeiten, auf die wir normalerweise nicht besonders achten.

Damit man das aber besser verstehen kann, muss ich ein paar Vorbemerkungen machen.

Vorbemerkungen

Wenn wir uns die Erzählungen vom auferstandenen Jesus in allen vier Evangelien ansehen, dann merken wir sehr große Unterschiede. Jeder Evangelist erzählt seine eigenen Geschichten. Es gibt nach der Entdeckung des leeren Grabes keine Geschichte, die bei zwei Evangelisten vorkommt, wie wir es von anderen Erzählungen kennen.

Besonders hervorzuheben ist dabei der Evangelist Markus: Bei ihm gibt es gar keine Berichte über die Auferstehung Jesu. Dort finden Frauen einfach das leere Grab und ein junger Mann sagt ihnen, Jesus werde in Galiläa erscheinen. Die Jünger sollen also wieder dorthin zurückgehen. Das war’s. Die Auferstehungsberichte, die sich bei Markus heute in der Bibel finden, sind Anfügungen anderer Autoren, die mit dem eigentlichen Schluss nicht zufrieden waren.

Wie dem auch sei. Trotz dieser großen Unterschiede zeigen sich auch ein paar Gemeinsamkeiten in einzelnen Elementen. Ich zähle ein paar auf:

Das Grab ist am dritten Tag nach der Kreuzigung leer.
Das leere Grab wird von Frauen entdeckt. Nicht von Männern und nicht von den Aposteln.
Am leeren Grab befindet sich jemand, ein oder mehrere Männer bzw. Engel, die den Frauen sagen, was geschehen ist.
Die Frauen verkünden diese Botschaft an die Männer bzw. Jünger weiter. (Außer bei Markus – da schweigen die Frauen aus Angst.)
Später erscheint Jesus den Jünger*innen und jedes Mal ist er nicht einfach erkennbar. D. h. man erkennt ihn nicht aufgrund des Körpers, den er hat, sondern aufgrund anderer Gegebenheiten: Brot brechen, Wundmahle, Anrede der Jünger*innen usw.

Das alles kommt auch in der Erzählung vor, auf ich näher eingehen möchte.

Aber noch eine Vorbemerkung ist wichtig: Jesus ist beim Evangelisten Johannes eine andere Figur als bei den anderen drei Evangelisten. Das müssen wir immer im Hinterkopf haben. Denn für Johannes ist der auf der Erde wandelnde Jesus immer schon das vor aller Zeit existierende Wort und Licht Gottes, dass auf die finstere Erde kommt, um sie mit seiner Botschaft zu durchleuchten. Am Ende muss Jesus, das Wort und Licht Gottes, wieder zu Gott zurückkehren. Es gibt also eine Bewegung Gottes vom Himmel herab und wieder in den Himmel zurück.

So, aber nun lese ich einmal den etwas längeren Text vor. Dabei nehme ich nicht die katholische Einheitsübersetzung, sondern die etwas eigenartiger klingende Elberfelder Bibel. Und los geht’s.

An dem ersten Tag der Woche aber kommt Maria Magdalena früh, als es noch finster war, zur Gruft und sieht den Stein von der Gruft weggenommen. Sie läuft nun und kommt zu Simon Petrus und zu dem anderen Jünger, den Jesus lieb hatte, und spricht zu ihnen: Sie haben den Herrn aus der Gruft weggenommen, und wir wissen nicht, wo sie ihn hingelegt haben. Da ging Petrus hinaus und der andere Jünger, und sie gingen zu der Gruft. Die beiden aber liefen zusammen, und der andere Jünger lief voraus, schneller als Petrus, und kam zuerst zu der Gruft; und als er sich vornüberbeugt, sieht er die Leinentücher daliegen; doch ging er nicht hinein. Da kommt Simon Petrus, der ihm folgte, und ging hinein in die Gruft und sieht die Leinentücher daliegen und das Schweißtuch, das auf seinem Haupt war, nicht zwischen den Leinentüchern liegen, sondern für sich zusammengewickelt an einem ⟨besonderen⟩ Ort. Da ging nun auch der andere Jünger hinein, der zuerst zu der Gruft kam, und er sah und glaubte. Denn sie verstanden die Schrift noch nicht, dass er aus den Toten auferstehen musste. Da gingen nun die Jünger wieder heim. Maria aber stand draußen bei der Gruft und weinte. Als sie nun weinte, beugte sie sich vornüber in die Gruft und sieht zwei Engel in weißen ⟨Kleidern⟩ dasitzen, einen bei dem Haupt und einen bei den Füßen, wo der Leib Jesu gelegen hatte. Und jene sagen zu ihr: Frau, was weinst du? Sie spricht zu ihnen: Weil sie meinen Herrn weggenommen und ich nicht weiß, wo sie ihn hingelegt haben. Als sie dies gesagt hatte, wandte sie sich zurück und sieht Jesus dastehen; und sie wusste nicht, dass es Jesus war. Jesus spricht zu ihr: Frau, was weinst du? Wen suchst du? Sie, in der Meinung, es sei der Gärtner, spricht zu ihm: Herr, wenn du ihn weggetragen, so sage mir, wo du ihn hingelegt hast! Und ich werde ihn wegholen. Jesus spricht zu ihr: Maria! Sie wendet sich um und spricht zu ihm auf Hebräisch: Rabbuni! – das heißt Lehrer. Jesus spricht zu ihr: Rühre mich nicht an! Denn ich bin noch nicht aufgefahren zum Vater. Geh aber hin zu meinen Brüdern und sprich zu ihnen: Ich fahre auf zu meinem Vater und eurem Vater und zu meinem Gott und eurem Gott! Maria Magdalena kommt und verkündet den Jüngern: Ich habe den Herrn gesehen! – und dass er dies zu ihr gesagt habe.

Wie gesagt: In dieser Episode möchte ich nur den ersten Teil behandeln, nämlich bis dahin, wo die beiden Jünger von Grab wieder nach Hause zurückkehren.

Aber gehen wir der Reihe nach vor:Schon der erste Vers hat einiges in sich, dass man sehr leicht überlesen kann. Ich wiederhole ihn nochmals:

An dem ersten Tag der Woche aber kommt Maria Magdalena früh, als es noch finster war, zur Gruft und sieht den Stein von der Gruft weggenommen.

Der erste Tag der Woche ist der Tag, den wir heute Sonntag nennen. Jesus wurde an einem Freitag gekreuzigt und begraben und nach damaliger Zählweise ist der Sonntag nun der dritte Tag.

An diesem Tag kommt also Maria aus Magdala zur Gruft. Wer ist diese Maria? Viele glauben über sie etwas zu wissen. Aber dieses Wissen kann hinderlich sein. Die erste Frage muss sein: Welche literarische Figur ist diese Maria innerhalb des Johannes-Evangeliums? Und da sehen wir: Sie taucht erst bei der Kreuzigung Jesu als Nebenfigur auf. Sie wird im ganzen Evangelium zuvor nicht erwähnt.

Bei der Kreuzigung Jesu – so wie sie Johannes erzählt – stehen aber drei Marias: das ist einmal Jesu Mutter, deren Name im gesamten Evangelium nicht genannt wird. Dann die Schwester der Mutter, die auch Maria heißt. Man kann daher davon ausgehen, dass es sich eher um eine Cousine handelt, da kaum zwei Schwestern denselben Vornamen tragen. Und dann stand noch Maria aus Magdala dabei. Über sie wird weiter nichts gesagt. Wir wissen jetzt nur, dass sie Zeugin der Kreuzigung war. Wenn sie nun in der ersten Auferstehungserzählung die Hauptrolle einnimmt, dann soll damit die Kontinuität zwischen dem Gekreuzigten und dem Auferstandenen bezeugt sein. Diese sind nicht zwei Personen, sondern ein und dieselbe.

Mehr steht im Johannes-Evangelium nicht über diese Maria. Da sie nicht weiter beschrieben ist, kann man auch vermuten, dass die Gemeinde, für die Johannes seinen Text geschrieben hat, vielleicht gewusst hat, wer damit gemeint ist. Denn ansonsten neigen die Evangelisten dazu, das zu beschreiben, was die ursprüngliche Leser*innenschaft nicht weiß. Aber wir wissen nicht, für wen die Gemeinde Maria aus Magdala gehalten hat.

Rein auf der textlichen Ebene ist sie bis jetzt Zeugin der Kreuzigung und jetzt diejenige, die am ersten Tag zur Gruft geht. Der Grund für diesen Weg wird aber nicht angegeben. Die Salbung des Leichnams, die wir aus anderen Evangelien kennen, wird hier nicht erwähnt.

In dieser Übersetzung wird übrigens von Gruft gesprochen, was besser ist, als vom Grab zu reden. Johannes hat hier nicht die Vorstellung von Gräbern, wie wir sie an unseren Friedhöfen haben, sondern einer begehbaren Grabkammer, vermutlich in einem Felsen, deren Eingang mit einem Stein verschlossen ist. Normalerweise, denn hier ist der Stein ja weggerollt.

Und noch eines ist in diesem ersten Vers wichtig: „es war finster“. Was zunächst wie eine Tageszeitangabe klingt, ist vielmehr ein theologischer Verweis an den Beginn des Evangeliums. Dieses eröffnet Johannes mit einem Gesang vom Wort Gottes, das Fleisch annimmt. Er singt vom Licht Gottes, das in die Finsternis kommt. Die Menschen aber haben das Licht nicht erkannt, sondern liebten die Finsternis, denn ihre Taten waren böse (Joh 3,19). Jesus ist das Licht der Welt; wer an ihn glaubt, wird nicht in Finsternis wandeln, sprich: wird nicht böse handeln (Joh 8,12). Wie die Menschwerdung schon das Kommen des Lichtes in Finsternis ist, so möchte Johannes nun auch die Auferstehung als das Kommen des Lichtes in der Finsternis verstanden wissen.

Noch bevor die Sonne aufgeht, geht also Maria aus Magdala zur Gruft. Von daher kommt auch die Tagesbezeichnung „Sonntag“.

Maria sieht den Stein weggenommen, schaut aber nicht in die Gruft, sondern läuft sofort zu Petrus und den Jünger, den Jesus liebte. Diesen beiden sagt sie:

„Sie haben den Herrn aus der Gruft weggenommen, und wir wissen nicht, wo sie ihn hingelegt haben.“

Obwohl sie also nicht hineingeschaut hat, weiß sie, dass Jesus, der Herr, weg ist. Wer sind aber die „Sie“, die weggenommen haben. Es wird hier nicht klar, wer das eigentlich sein soll. Es erinnert ein wenig an unsere Zeit, wo wir auch solche Sätze bilden, in denen wir einfach ein solches Personalpronomen verwenden, ohne genau sagen zu können, wer konkret gemeint ist.

Und noch eine sprachliche Besonderheit fällt auf: Maria spricht in der Wir-Form. Sie ist ja allein. Wer ist also gemeint, wenn es heißt „wir wissen nicht“.

Greift Johannes hier einen Satz aus einem frühen christlichen Bekenntnis auf? Oder kennt er jene Erzählungen bei anderen Evangelisten, bei denen immer mehrere Frauen am ersten Tag der Woche zum Grab gehen? Oder setzt er voraus, dass mehrere Frauen zum Grab gehen, ohne sie zu erwähnen, weil ihm einzig Maria aus Magdala wichtig ist? Wir wissen es nicht genau.

Jedenfalls ist Maria nun die Zeugin des leeren Grabes und diejenige, die es den Jüngern verkündet. Jetzt kann es sein, dass einer Frau nicht geglaubt wird. Wir haben solche Stellen in der Bibel, die deutlich machen, dass das Zeugnis einer Frau nichts oder nur wenig zählt.

Diese Bibelstelle scheint mir aber dieses Problem nicht zu haben. Vielmehr glauben die beiden Jünger Maria. Denn es macht eher den Eindruck, dass sie erstaunt sind über das, was sie da hören. Und wer würde bei einer solchen Botschaft nicht erstaunt sein und dem Boten – egal ob Mann oder Frau – wirklich glauben? Man will sich da schon mit eigenen Augen überzeugen.

Also starten die beiden Jünger einen Wettlauf, den der Jünger, den Jesus liebte, gewinnt. Er lässt aber dem Petrus den Vortritt. Was soll dieser eigenartige Wettkampf? Oder wie schon zuvor bei Maria gefragt: Welche literarischen Figuren sind die beiden im Johannes-Evangelium?

Zunächst zu Petrus: Bei Johannes ist er im Gegensatz zu den anderen Evangelisten nicht der Erstberufene. Jesus ruft da auch nicht in die Nachfolge. Am Beginn läuft es so ab: Jesus geht an Johannes dem Täufer vorbei, bei dem auch zwei seiner Jünger standen. Johannes sagt: „Seht das Lamm Gottes.“ und die beiden Johannes-Jünger folgen nun Jesus nach. Einer dieser beiden ist Andreas. Dieser erzählt seinem Bruder Simon, dass sie den Messias getroffen haben, woraufhin Simon Jesus kennenlernt und Jesus sofort sagt: „Du bist der Fels, Petrus“. Wovon er Fels ist und was das bedeuten soll, lässt Johannes offen.

Petrus kommt also erst über seinen Bruder in die Gefolgschaft Jesu, nimmt aber dort einen besonderen Platz ein. Er wird später folgendes Bekenntnis äußern:

Herr, zu wem sollen wir gehen? Du hast Worte des ewigen Lebens.

Er wird sich weigern, die Füße gewaschen zu bekommen und er wird einem Soldaten das Ohr abschlagen. Er wird Jesus versprechen, mit ihm in den Tod zu gehen, und dann wird er leugnen, Jesus zu kennen. Und das ist das Letzte, was wir von Petrus erfahren, bevor es zur Auferstehung kommt.

Nun zum Jünger, den Jesus liebte: Er taucht erst im 13. Kapitel des Johannes-Evangeliums zum ersten Mal auf, also erst in der zweiten Hälfte des Evangeliums. Schon dort steht er in Bezug auf Petrus. Jesus und die Jünger sind beim Letzten Abendmahl zusammen und Jesus legt offen, das einer der Jünger ihn den Herrschern und Führern überliefern wird. Petrus, der von Jesus etwas entfernt liegt (damals lag man noch am Tisch), deutet nun zum Jünger, den Jesus liebte, er solle in Erfahrung bringen, wer genau das sei. Von diesem Jünger wird gesagt, dass er an der Brust des Herrn lag. Das meint natürlich keine körperlich-sexuelle Annäherung. Man muss sich das bei Tisch liegen so vorstellen, dass man längs des Tisches lag, nicht mit der Kopfseite Richtung Essen, während die Füße nach außen zeigten. So lag man immer entweder an der Fußseite oder an der Brustseite seines Nebenliegenden.

Damit wird aber etwas Wichtiges ausgesagt: Der Jünger, den Jesus liebte, steht Jesus näher als alle anderen Jünger, ja sogar als der wichtige Petrus. Dabei geht es nicht um eine emotionale Nähe – so würden wir ja heute das Wort „lieben“ verstehen – sondern es geht um eine Nähe des Zeugnisses.

Wer kann ein zuverlässiges Zeugnis geben? Es ist eben der Jünger, den Jesus liebte – übrigens nicht der Jünger, der Jesus liebt. Der zuverlässige Zeuge ist derjenige, der von Jesus geliebt wird, nicht der, der Jesus liebt.

Dass es hier um Zeugenschaft geht, zeigt das Zusammenlesen zweier Passagen aus dem 19. und 21. Kapitel. Im 21. Kapitel, im vorletzten Vers des Evangeliums, lesen wir über den Jünger, den Jesus liebt:

Das ist der Jünger, der von diesen Dingen zeugt und der dies geschrieben hat; und wir wissen, dass sein Zeugnis wahr ist.

Der Autor des Evangeliums selbst ist dieser Jünger und sein Zeugnis ist zuverlässig. Denn er wurde von Jesus geliebt. Im 19. Kapitel lesen wir nachdem Jesu Tod endgültig festgestellt wurde, folgendes:

Und der es gesehen hat, hat es bezeugt, und sein Zeugnis ist wahr; und er weiß, dass er sagt, was wahr ist, damit auch ihr glaubt

ei all dem drängt sich also die Frage auf, ob es diesen Jünger tatsächlich gegeben hat und wie er wohl geheißen hat. Also welcher der zwölf Apostel er war. Wenn gesagt wird, dass dieser Jünger dieses Evangelium geschrieben hat, dann muss es ihn wohl gegeben haben.

Tatsächlich hat die kirchliche Tradition ihn mit dem Apostel Johannes identifiziert, weswegen ja auch das Evangelium so genannt wurde. Aus dieser Tradition folgt auch, dass bei den Kreuzigungsdarstellungen gesagt wird, dass Jesu Mutter, Maria, und Johannes dabei standen. Im Evangelium wird der Jünger, den Jesus liebte, aber nie mit dem Apostel Johannes identifiziert. Und dieser ist es, der am Kreuz steht, und nicht Johannes.

Kann es aber nicht trotzdem sein, dass es diesen Jünger gegeben hat? Oder ist er nur Fiktion? Ich würde beides bejahen. Denn darin liegt kein Widerspruch.

Einerseits gibt es ja einen Autor dieses Evangeliums und dieser hatte in der Gemeinde, an die er dieses Evangelium geschrieben hat, eine besonders herausragende Rolle gehabt. Für diese Gemeinde ist er der zuverlässige und bedeutendste Zeuge der Geschehnisse rund um Jesus. Er ist so bedeutend, dass es zu einer Rivalität mit anderen christlichen Gemeinden gekommen ist, für die Simon Petrus der Fels der Kirche war. Um also die Einheit unter den Gemeinden herstellen zu können, mussten diese rivalisierenden Figuren zu einem Zusammenspiel finden.

Unsere Geschichte löst das Problem so, dass der Jünger, den Jesus liebte, der erste am Grab war. Er ist der schnellere, der erste. Aber er besteht nicht auf seiner Position als Erster, sondern lässt den Petrus den Vortritt. Der zuverlässige Zeuge ist der, der dem anderen die Position des Ersten nicht streitig macht.

Mit anderen Worten könnte man also sagen: Hinter diesem Wettlauf steht eine kirchenpolitische Frage: Wer ist der Erste, der das leere Grab sieht? Und während sich zwei Männer um diesen Vorrang streiten, hat eine Frau das Rennen längst für sich entschieden.

Die gleiche kirchenpolitische Auseinandersetzung findet sich dann im 21. Kapitel nochmals. Darauf gehe ich jetzt aber nicht ein.

Ich komme noch zum Andererseits: Andererseits ist nämlich der Jünger, den Jesus liebt, eine literarische Leerstelle. Leerstelle deshalb, weil sie unterschiedlich gefüllt werden kann. D. h. jeder und jede von uns kann dieser Jünger, den Jesus liebt, sein. Diese Zeugenschaft hängt nicht von der Liebe des Zeugen ab, sondern davon, ob und wie sehr der Zeuge geliebt wird. Zeugenschaft im Johannes-Evangelium ist immer ein Widerfahrnis und nicht abhängig von meinen Emotionen, Einstellungen, Gedanken usw.

Die Szene endet also damit, dass Petrus vorgelassen wird und dann erst der andere Jünger eintritt. Als die das Grab leer finden und die Leinentücher ordentlich hingelegt, heißt es nur von dem anderen Jünger: „Er sah und glaubte.“ Und von beiden wird gesagt: Sie verstehen es noch nicht, weil sie nicht wissen, dass schon in der Schrift von der Auferstehung gesprochen wird. Mit Schrift ist das gemeint, was wir mit Altem Testament bezeichnen.

Sie sehen ja nur das leere Grab, nicht den Auferstandenen. Aber der Ausgangspunkt – das will die Geschichte sagen – ist nicht einfach das Schriftstudium, sondern eine Erfahrung – genauer gesagt eine Erfahrung der Leere. Diese Leere des Grabes allein führt schon zum Glauben, aber nicht zum Verstehen. Letzteres erfolgt erst aus der Schrift. D. h. die Leere des Grabes muss im Horizont anderer Glaubenszeugnisse gedeutet werden.

Damit endet der erste Teil der Geschichte und auch diese Episode.

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