Karlheinz Six

Opfer sein

Titelbild: Opfer sein

In einer Messe vor einigen Monaten stieß mir die Rede vom Opfer sauer auf. Mit einer Portion Unehrlichkeit und veralteter Theologie wollte ich eigentlich gar nicht mehr mitfeiern. Daher denke ich in dieser Episode über das „Opfer“, das „Opfern“ und das „Opfersein“ nach.

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Transkript

Herzlich willkommen zur zwölften Episode meines podcasts „aus&aufbrechen“. Vor einiger Zeit war ich in einer Messe und da ist mir plötzlich etwas sehr sauer aufgestoßen. Und ich meine damit nicht meinen Reflux. Vielmehr fühlte ich mich sehr unwohl bei dem, was über das „Opfern“ und über „Opfer“ gebetet und gesungen wurde. Darum soll es unter anderem in dieser Episode gehen. Und am Ende werden wir der Antwort auf eine Frage näher kommen, die ich vor einigen Episoden offen gelassen habe.

Bevor es aber losgeht, möchte ich darauf hinweisen, dass ich mich sehr über jeden Kommentar und jede Nachricht von euch freue. In den Shownotes habe ich alle Kontaktmöglichkeiten angeführt. Ihr könnt mir gern auf Instagram oder auf Facebook folgen. Oder ihr abonniert diesen Podcast oder meinen YouTube-Kanal. Auf meiner Homepage könnt ihr euch gern für meinen Newsletter eintragen. Besonders freue ich mich, wenn ihr euren Freunden von diesem Podcast erzählt und Inhalte teilt.

Das Opfersein nimmt in unserer Gesellschaft auf vielen Ebenen eine bedeutende Stellung ein. So zum Beispiel bei der Gewalt an Frauen, bei Verkehrsopfern, bei Holocaust-Überlebenden, in Pandemien – um nur einige Beispiele zu nennen. Und auch im Christentum spielt der Opfergedanke eine zentrale Rolle: vom Opfer Jesu am Kreuz bis hin zum Messopfer.

Alles in allem eine sehr komplexe Materie, die ich in dieser Episode klarerweise nicht vollständig auflösen können werden. Vielmehr möchte ich ein paar Blickwinkel auf das Opfersein werfen, die euch zum Weiterdenken anregen sollen.

Zuerst erzähle ich aber vom Gottesdienst, von dem ich zuvor gesprochen habe:

Also, das war so: Am letzten Christkönigssonntag, das ist der Sonntag vor dem 1. Advent, war ich in der Messe. Irgendwann brachten die Ministrantinnen wie in jeder Messe Brot und Wein zum Altar und der Klingelbeutel ging herum, in den ich 2 Euro hineinwarf. Währenddessen stimmte der Organist ein Lied an. Wer nachsehen möchte: Es war das Lied Nummer 185 aus dem Gotteslob.

Nachdem ich also nach den 2 Euro gekramt hatte und sie los geworden war, wollte ich ins Lied einsteigen und da kam gleich folgender Text:

„… nimm alles, was wir haben, zum Opfer gnädig an.“

Ich stutzte. Jetzt gab ich gerade mal 2 Euro. Und wenn ich so auf den Altar schaute, dann sah ich ein paar Oblaten und einen Schluck Wein. Wir waren also weit davon entfernt, „alles, was wir haben“ herzugeben. Meinen wir die Lieder ernst, die wir singen?

Nun gut. Jetzt war ich aber aufmerksam geworden. Nach dem Lied folgte eine Sequenz, die bei jeder Messe an dieser Stelle kommt und die ich schon hunderte Mal gehört und gesagt hatte:

Der Priester:

„Betet, Brüder und Schwestern, dass mein und euer Opfer, Gott, dem Allmächtigen gefalle.“

Alle sprechen:

„Der Herr nehme das Opfer an aus deinen Händen … “ uns so weiter

Ich stockte. Meine zwei Euro? Die paar Brotstücke und ein bisschen Wein? Echt jetzt?

Aber es ging noch weiter. Es folgte – wie üblich – das Gabengebet, dass an jedem Sonntag ein anderes ist. Und an diesem Christkönigssonntag beginnt es mit folgenden Worten:

Herr, unser Gott, wir bringen das Opfer deines Sohnes dar …“

Was ist das jetzt für eine Formulierung? Was soll sie bedeuten? Diese Gebetseröffnung findet sich – soweit ich sehe – im Gabengebet nur an diesem einen Tag im Jahr.

Aus dem restlichen Gebet wird klar, dass damit der Tod Jesu gemeint ist. Aber soll das meinen, dass wir dieses Opfer darbringen: Opfern wir jetzt gerade Jesus? Nein, das steht ja nicht da. Aber wie können wir den Tod Jesu darbringen? Hat er das nicht schon längst selbst gemacht?

Ich gebe zu, dass ich diese Formulierung als besonders unverständlich und absonderlich halte.

Ist das nicht irgendwo in einer veralteten Theologie stecken geblieben?

Jedenfalls war es Anlass genug für mich, einmal ein bisschen über das Thema Opfer nachzudenken.

Zuerst möchte ich mir kurz die Wortherkunft ansehen: Das Hauptwort „Opfer“ geht auf das Zeitwort „opfern“ zurück. Dieses wiederum hat eine komplexe Wortgeschichte. Aus dem Lateinischen kann man sagen, dass es von operari herkommt und dann ins Deutsche eingedrungen ist. Operari bedeutet zunächst nur „arbeiten“. Erst im religiös-kirchlichen Kontext wird aus dem „arbeiten“ ein „opfern“. „opfern“ meint, dass man einem Gott eine Gabe darbringt, dass man etwas spendet, auch unter Verzicht.

Es ist ja recht spannend, dass wir im Deutschen heute mit dem Zeitwort anders umgehen als mit dem Hauptwort. Denn das Zeitwort „opfern“ hat mehr oder weniger immer noch eine religiöse Konnotation. Das Hauptwort kann aber auch ganz unreligiös gemeint sein. So sprechen wir von Verkehrsopfern oder bei einem Femizid von der Frau als Opfer. Wir würden aber nicht sagen, dass bei einem Verkehrsunfall drei Menschen geopfert wurden oder dass ein Mörder seine Frau geopfert habe. Denn da würde gleich die Frage auftauchen, WEM geopfert wurde.

Da also „Opfer“ religiös und nicht religiös gebraucht werden kann, haben sich in vielen Sprachen – außer im Deutschen – zwei Wörter herausgebildet: Beispielsweise im Englischen: Da spricht man beim religiösen Opfer von „sacrifice“, im andern Fall von „victim“. Spannend sind auch die Zeitwörter: Das „Opfern“ im religiösen Sinn kann mit „to sacrifice“ oder mit „to offer up“ wiedergeben werden, während das „Opfern“ im Sinn von Spenden „to donate“ heißt. Es gibt auch das Zeitwort „to victimize“, ein Wort, das ausdrücken soll, dass jemand zu einem Diskriminierungs- oder Verbrechensopfer gemacht wurde. Und dann gibt es aber noch die Person oder die Sache, die im religiösen Sinn geopfert wird. Diese wird im Englischen „sacrificial victim“ genannt. Hier verbinden sich also beide Opfer-Wörter.

Auch im Italienischen gibt es mit „vittima“ und „sacrifico“ zwei Wörter für Opfer. Auch bei den Zeitwörtern gibt es den Unterschied zwischen „vittimizzare“ und „sacrificare“. Aber es gibt auch das Wort „offerta“. Es meint ausschließlich die Spende oder ein Angebot.

Man unterscheidet also zwei Sphären des Opfers: den religiösen und den profanen Bereich. Ich gehe zunächst auf die erste, die religiöse Sphäre ein:

Das bringt mich zu einer Dreiecksdynamik, die schon angeklungen ist: Jemand opfert, jemand bringt ein Opfer dar. Und er bringt es einem Gott dar. Wir haben also ein Dreiecksverhältnis zwischen einem Menschen, einem Opfer und einem Gott oder höherem Wesen.

Dieses Dreieck ist nicht starr, sondern in zeitlicher Hinsicht dynamisch: Der Mensch steht zunächst in einer Zweierbeziehung mit Gott. Diese Zweierbeziehung wird jedoch aufgebrochen, in dem der Mensch durch ein Ereignis in ein Schuldverhältnis zu Gott gerät oder geraten kann. Wie es zu diesem Schuldverhältnis kommt, gleich später noch mehr.

Um dieses Schuldverhältnis aufzulösen, um beide Seiten wieder zu versöhnen, muss ein Drittes zwischen dem Menschen und Gott treten, nämlich das Opfer. Es vertritt die Stelle der Schuld. Und durch die gewalttätige Zerstörung des Opfers wird die Schuld zerstört und der Mensch kann wieder in einer Zweierbeziehung mit Gott leben. Das Opfer vermittelt also zwischen Mensch und Gott. Damit ist auch dieses Dreiecksverhältnis nur von vorübergehender Natur.

Übrigens gibt es noch eine andere Stellvertretung: Die Opfernden vollziehen den Ritus der Opferung oft nicht selbst, sondern lassen sich durch andere, durch Priester oder Priesterinnen vertreten. Der Opfernde bringt dann lediglich die Opfergabe mit.

Wie kommt es aber zu diesem Schuldverhältnis? Gewöhnlich denken wir hier zunächst an die Sünde, das heißt an eine Tat, die der Mensch begeht, die nicht im Sinn Gottes ist, die eines seiner Gebote übertritt. Es trifft zu, dass in Opferreligionen derart ein Schuldverhältnis entstehen kann, aber das ist nicht die einzige Möglichkeit. Vor allem muss man bedenken, dass wir heute nur dann von Schuld sprechen, wenn jemand absichtlich etwas Böses getan hat. Die Bibel kennt aber auch dort ein Schuldverhältnis, wo ein Mensch unwissend etwas gegen Gottes Gebote getan hat. Diese Frage möchte ich aber hier nicht weiter vertiefen.

Im Alten Testament tauchen aber noch andere Arten von Schuldverhältnissen zwischen Gott und Mensch auf, die durch ein Opfer gelöst werden sollten und die ich an dieser Stelle nur kurz erwähnen möchte. So gibt es zB Bitt- und Dankopfer. Wie die Namen schon sagen, bitte ich Gott mit dem Opfer um etwas oder danke ich. Das eine im Voraus, das andere im Nachhinein. Immer besteht eine Schuld, die durch die Gabe Gottes entsteht.

Ganz anderer Art ist das Opfer zur Auslösung: So geht das Alte Testament davon aus, dass die Erstlingsgeburt bei Mensch und Tier Gott gehört. Vor allem der Mensch muss daher durch ein anderes Opfer stellvertretend ausgelöst werden.

Pfoah. Ich gebe zu, das alles ist ganz schön starker Tobak. Ich weiß. Aber ich hoffe, es ist jetzt doch was hängen geblieben.

Zurück aber nochmals zur Messe: Die Theologie spricht davon, dass in der Messe das Opfer Jesu vergegenwärtigt wird. Die Messe ist also keine erneute Opferung. Die Gaben, die wir bringen – in unserer Kultur: Brot, Wein und Geld; in anderen Kulturen oft auch Naturalien – verbinden sich zwei Anliegen: Einerseits die angesprochene Vergegenwärtigung des Opfers, um uns zu erinnern, dass wir mit Gott in einer geheilten Beziehung stehen. Andererseits dass wir bereit sind, für andere Menschen etwas zu opfern, etwas zu geben „to donate“ „una offerta“. Geld und Naturalien sollen nicht nur für die Tätigkeiten der Pfarre, sondern vor allem auch für soziale Zwecke eingesetzt werden.

Die Gaben, die wir bringen, sollen also unsere Beziehung zu Gott und den Menschen anzeigen.

Aber eine berechtigte Frage bleibt hier offen: Was schulden wir Gott eigentlich? Oder hat Jesus durch sein Opfer schon alle Schuld beseitigt? Sollen wir nicht nur ein paar Euro, sondern alles, was wir haben, Gott opfern – wie es im Lied heißt? Ist das von uns gefordert? Und wie konkret soll das aussehen?

Fragen, die auch ich an dieser Stelle offen lasse. Ob es sinnvoll ist, den Tod Jesu als Opfer zu verstehen, darüber werde ich in der nächsten Episode etwas sagen. Für jetzt möchte ich noch auf den zweiten Opfer-Kontext eingehen.

Der zweite Bereich, indem das Wort „Opfer“ eine Rolle spielt ist zunächst profan, hat aber in der jüdisch-christlichen Religion eine wichtige Bedeutung.

Hier stoßen wir wieder auf ein mehrfaches Beziehungsgeflecht: Dieses beginnt wieder mit einer Zweierbeziehung, in der ein Mensch, durch ein*e Täter*in zum Opfer gemacht wird. Der*die Täter*in muss dabei kein Mensch, sondern kann auch ein Tier, eine Naturkatastrophe oder eine Krankheit sein.

Diese Form der Zweierbeziehung ist aber keine gewünscht. So kann sie durch ein Drittes aufgebrochen werden, wodurch wieder eine Dreiecksbeziehung entsteht. So spricht man beispielsweise im so genannten Drama-Dreieck von der Position des*der Retters*Retterin. Diese dritte Position soll die Täter*in-Opfer-Beziehung als solche zerstören, auflösen, beenden. Die Funktion, die das Opfer im religiösen Bereich einnimmt, nimmt der*die Retter*in im profanen Kontext ein.

Wenn man – so wie ich beruflich – immer wieder mit Opfern von Gewalt zu tun hat, dann merkt man bei vielem Menschen, dass sie in einer Ambivalenz gefangen sind: Sie wollen nicht Opfer sein. Sie wollen sich nicht schwach und hilflos fühlen. Viele tendieren dann dazu, sich besonders stark zu zeigen – übertrieben stark. Man merkt sehr schnell, dass hinter dieser Maskerade ein verletzlicher, verletzter Mensch steht. Zugleich kann ich dem Opfersein letztlich nur entkommen, indem ich mich selbst als Opfer anerkenne. Und diese Anerkennung gelingt oft erst, wenn das Opfersein des Opfers durch andere anerkannt wird – z. B. durch die Familie, durch die Gerichte, durch den*die Täter*in usw. So werden dann aus Opfern Überlebende, also Menschen, die ihr Opfersein anerkennend hinter sich gelassen haben.

Auch diese Schemata sind für den christlichen Glauben wichtig: Denn Jesus hat sich gerade diesen Opfern zugewandt und ist immer wieder streng mit den Tätern ins Gericht gegangen. Jesus hat das Opfersein der Opfer anerkannt. Wenn diese Episode nicht aber schon so lange wäre, könnte ich auch Stellen aufzeigen, in denen Jesus der viel komplexeren Wirklichkeit gerecht wird. Denn Täter*innen und Opfer sind nicht einfach zwei Gruppen, die sich starr gegenüber stehen.

Vielmehr wissen wir, wie sehr Täter*innen selbst Opfer gewesen sind. Hier geht es nicht um eine Täter-Opfer-Umkehr oder um die Verharmlosung der Taten. Auch nicht darum zu sagen, dass aus jedem Opfer einmal ein Täter wird. Wenn wir aber die Geschichte der Täter ansehen, dann erfahren wir häufig eine Geschichte von Opfern von Gewalt, Unterdrückung und Ausgrenzung. Umso wichtiger ist es, sich den Opfern zuzuwenden und eine klare Abgrenzung von Tätern und Opfern durchzusetzen. Was oft schwer genug ist.

Jedesmal, wenn ich mit solchen Täter-Opfer-Konstellationen konfrontiert bin, habe ich den Eindruck, dass mein Beitrag nur der Schutz der Opfer sein kann. Für Gerechtigkeit kann ich nicht sorgen. Und ich meine, dass in solch tragischen Lebensgeschichten auch menschliche Gerichte keine letzte Gerechtigkeit verwirklichen können.

Es braucht wohl einen überirdischen Richter, der für wahre Gerechtigkeit sorgen kann: Jesus, so sagt die Bibel, ist der Menschensohn, der gekommen ist, um die Erde zu richten. Im Drama-Dreieck ist er der Retter, der sein Rettungshandeln als sich zuwendender Richter durchführt. Als ein Richter, der selbst ein Hingerichteter, ein Opfer ist, der selbst gerettet werden musste. Als Retter zielt Jesus vielleicht gerade darauf ab, diese Täter*in-Opfer-Dyade aufzubrechen und eine neue Art von Beziehung unter den Menschen zu stiften. So können Opfer zu Überlebenden werden.

Aber an dieser Stelle beende ich diese Episode und überlassen es euch, weiter darüber nachzudenken. Ich verweise aber noch auf die Episode 6 „Der Retter ist geboren“, die ich zur Weihnachszeit veröffentlicht habe. Darin lasse ich die Frage nach dem Rettersein Jesu offen. Vielleicht bin ich heute der Antwort einen kleinen Schritt näher gekommen.

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